Einmal ein großer und starker Bär sein. Oder ein kleines, ängstliches Mäuschen, das auf abenteuerlichen Wegen entdeckt, was in ihm steckt? Einmal mit Riesengebrüll und Wutgestampf die anderen zum Schweigen und Zittern bringen. Oder doch lieber die anderen anstecken mit dem eigenen Lachen, der grotesk ausagierten Lebensfreude? Wir wechseln die Rollen, fühlen uns in andere hinein, schauen mit den Augen des Anderen in die Welt hinein, sprechen mit seiner Stimme. Jede Rolle ist möglich: Das kann der starke Ritter sein, die böse Hexe, die listige Schlange, die weise Eule. Aber: Sich in dieser Rolle vorzustellen, ist das eine; sie so zu spielen, dass auch andere verstehen, was dargestellt wird, das andere. Plötzlich tauchen Fragen auf, wo vorher alles einfach und klar schien: Wie sehen wir aus, wenn wir froh, und wie, wenn wir traurig sind? Wie bewegen wir uns, wenn wir mutig, und wie, wenn wir ängstlich sind? Wer weiß, wie eine Giraffe schreitet? Und wer kann krähen wie ein Hahn?
Mit der Vorbereitung und Einstudierung eines Theaterstücks, welches die Vorschulkinder bei ihrer Abschiedsfeier vor den anderen Spielhauskindern und den Eltern und Familien aufführen, erreicht die Vorschlarbeit im Spielhaus einen weiteren Höhepunkt. Diesmal geht es nicht darum, von einem Ort an den anderen zu reisen: Wer Theater spielt, unternimmt eine Reise in das Fühlen und Denken seiner selbst und des Anderen.
Wir suchen uns eine Geschichte, die allen gefällt, oder denken uns selbst eine solche aus. Wir hören zu, begeben uns in unserer Phantasie in die Geschichte hinein. Jeder überlegt, wen er gern darstellen möchte. Und dann heißt es, eine Vorstellung von der eigenen Rolle entwickeln: Sich heranzutasten an das Erleben einer Möwe, eines Frosches, eines alten Mannes, um dieses auf der Bühne darstellen zu können. Die Texte müssen gelernt, die Abläufe geprobt werden. Nebenher entstehen schon die ersten Kostüme und Requisiten. Welche Musik soll das Stück untermalen? Wie bringen wir es fertig, den Bären tatsächlich größer erscheinen zu lassen als den ihn um eine Handbreit überragenden Hasen? Die Schildkröte muss immer an einer völlig unpassenden Stelle kichern, der Tintenfisch leidet unter chronischem Lampenfieber. Einige der jüngeren Kinder können die Aufführung nicht abwarten, versuchen, heimlich einen Blick auf die Proben zu erhaschen, und verursachen ein gewaltiges Durcheinander …
Und dann, am Ende, setzt sich plötzlich alles zusammen. Die Gesichter sind sorgfältig geschminkt,die Kostüme zurechtgerückt, der Vorhang geht auf, und jetzt kennt jeder seinen Einsatz, der Hase zittert wie ein wirklicher Hase, der Bär wächst wie durch Zauberhand um die entscheidenden Zentimeter, der Tintenfisch findet seine Stimme wieder. Vergessen die Mühen, vergessen die Zweifel. Da ist nur unsere Geschichte, die wir erzählen, und ein Publikum, das zeitweilig so sehr den Atem anhält, dass man eine Stecknadel fallen hören könnte.
Vorhang, Applaus!